Kafka und die Angst vor dem eigenen fotografischen Blick.
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Kürzlich las ich einen Essay über die Wichtigkeit, neue, eigenständige Wege in der dokumentarischen Fotografie zu gehen. Der Text war hervorragend formuliert – spritzig, klug und inspirierend.
Die beigefügten Fotografien aber, obwohl das fotografische Thema nicht ganz alltäglich war, standen im krassen Gegensatz zum Text: Sie waren langweilig, offensichtlich, uninspiriert. Ob es der Mangel an konkretem fotografischem Wissen war, der dazu geführt hat, dass die Fotografien wie Allerweltsbilder wirkten, oder ob den Autor der Mut verlassen hat, das Formulierte auch umzusetzen, oder ob ein ganz anderer Grund dafür vorlag, weiß ich natürlich nicht.
Schlussendlich aber war ich vom Ergebnis enttäuscht.
Facebok, das Reglement - Tool.
In einer Facebook-Gruppe, die schwarzweiße Streetfotografie zum Thema hatte und der ich eine Zeit lang angehörte, bat der Admin in freundlichem Ton, im Sinne der Kreativität doch den Mut aufzubringen, von Regenschirmen, Brücken, Straßenlaternen, Wasserpfützen, Liebesschlössern und geometrischen Schatten abzusehen oder diese auf eine neue, überraschende Art zu kombinieren. Schließlich gäbe es doch noch viel, viel mehr zu zeigen als das oben Genannte.
Der Shitstorm war enorm und reichte von „Ich fotografiere, was ich will“ bis zu „Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, was ich fotografiere“.
Es gibt keine Regeln, aber alle halten sich daran.
Es beschäftigt mich sehr, dass die Fotografie, auch die dokumentarische Fotografie, oft unsichtbaren Gesetzen folgt – Gesetzen, die im Übrigen andere für uns aufgestellt haben.
Dabei sind Regeln und Gesetze per se kein übel Ding, wie der Dichter sagt; man stelle sich nur den Straßenverkehr ohne Regeln vor.
Aber Fotografie beruht vor allem auf Wahrnehmung und der fotografischen Umsetzung derselben. Ein Regelwerk, und sei es noch so diffus, kann niemals unsere Wahrnehmung und den Wunsch, eine Botschaft an den Empfänger zu bringen, ersetzen.
Franz Kafka und die Angst vor eigenen Entscheidungen.
Kennen Sie die Torwächterlegende von Franz Kafka?
Dass sich diese Szene in einem Raum voller Kunstwerke – genauer gesagt in einem Dom – abspielt, finde ich bemerkenswert, auch wenn Kafka den Text vermutlich nicht in erster Linie an Künstlerinnen und Künstler gerichtet hat. Natürlich ist Der Process, aus dem diese Geschichte stammt, keine Komödie – aber aufgrund ihrer Absurdität bringt sie mich trotzdem zum Lachen:
Ein Mann steht vor einem Tor und möchte „zum Gesetz (!)“ eingelassen werden. Der Torwächter, ein beeindruckend wirkender Mann, verweigert ihm jedoch den Eintritt mit den Worten, er könne irgendwann eintreten – nur eben nicht jetzt. So wartet der Mann vor dem Tor – alles Bitten und Betteln hilft nichts, der Eintritt wird ihm verwehrt. Nach einigen Jahren lässt er sich sogar so weit herab, die Flöhe im Pelzkragen des Wächters zu bitten, ihm zu helfen – ohne Erfolg. Ein wenig Hoffnung gibt dem Mann das Licht, das durch den Türspalt scheint; er wird aber vom Wächter darauf aufmerksam gemacht, dass es im Inneren noch viel schlimmere Wärter gebe, die nur darauf warteten, ihm den Einlass zu verwehren. Nach mehreren Jahren einsamen Wartens, dem Tode nahe, fragt der Mann den Torwächter, warum außer ihm in all den Jahren niemand sonst durch diese Türe wollte. Dieser erklärt ihm, dass diese Tür nur für ihn bestimmt war – und er sie jetzt schließt.
Wer sich jetzt ertappt fühlt, tut das vermutlich zurecht: Viele machen die Fotos, von denen sie wissen, dass sie OK sind während sie auf die Erlaubnis warten (wie immer die aussehen mag), dasjenige Foto anzufertigen, von dessen Wirkung sie überzeugt sind – vielleicht, um niemanden zu brüskieren, vielleicht, um zu gefallen, vielleicht, um nicht kritisiert zu werden, vielleicht, um zu bestätigen, dass man in der Lage sei zu reproduzieren, vielleicht in der Annahme, dass das, was bereits ist, der bestmögliche Weg sei.
Aber das ist er niemals.
Warum? Unsere Wahrnehmung – und die unserer Mitmenschen – ändert sich permanent. Menschen selbst ändern sich, genauso wie sich die Bedeutung von Ereignissen sowohl in persönlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht ändert.
Fotografie bedeutet aber, die Dinge, wie Friedrich Nietzsche es formulierte, zu interpretieren, nicht sie zu zeigen. Damit meine ich selbstverständlich nicht abstrakte Fotografie, die ein Gefühl beschreiben soll – das ist ein völlig anderes Thema.
Ich meine damit, sich bedingungslos auf die eigene Wahrnehmung einzulassen und darauf zu vertrauen, den einen richtigen Moment, der alle anderen Momente ausschließt, einzufangen.
Was ignoriert wird, hat keinen Einfluss.
Die Torwächter, wie ich sie eingangs beschrieben habe, sind nicht Leute, die einem sagen, wie eine Fotografie auszusehen oder nicht auszusehen hat – das Problem ist wesentlich diffiziler: Je öfter belanglose fotografische Interpretationen von hochinteressanten Szenen unsere Synapsen fluten – und das tun sie durch Social Media in beunruhigend großem Maße –, desto mehr möchte man glauben, es handle sich hier um State of the Art, um ein „Aha, so macht man das also“ – ungeachtet der Tatsache, dass die Szenerie wesentlich mehr zu bieten gehabt hätte, wäre man nur selbstbewusst am Torwächter vorbeimarschiert ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Als Fotografinnen und Fotografen sind wir in der privilegierten Lage, die Schönheit, die Spannung, die Intensität, den Kern einer Geschichte zu erzählen – und müssen dabei nicht auf Plattitüden zurückgreifen. Alles, was es braucht, ist das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung.
Kafka and the fear of one’s photographic eye.
Recently, I read an essay about the importance of finding new, independent paths in documentary photography. The text was brilliantly written—lively, intelligent, and inspiring.
The accompanying photographs, however—though the subject matter was not entirely commonplace—stood in stark contrast to the text: they were dull, obvious, worn out.
Whether it was a lack of concrete photographic knowledge that caused the images to look like stock clichés, or whether the author lacked the courage to put his own words into practice, or whether there was some other reason entirely—I cannot say.
In the end, though, I was disappointed by the result.
In a Facebook group devoted to black-and-white street photography, which I belonged to for a while, the admin once asked—quite politely—that, in the spirit of creativity, members should have the courage to refrain from photographing umbrellas, bridges, street lamps, puddles, love locks, and geometric shadows—or at least to combine them in a new and surprising way. After all, there is so much more to see than the above.
The backlash was enormous, ranging from “I photograph whatever I want” to “You can’t tell me what to shoot.”
There are no rules, yet everyone follows them.
It troubles me that photography—documentary photography included—often follows invisible laws, laws that, moreover, were established for us by others.
Now, rules and laws are not evil per se—as the poet says, one need only imagine road traffic without them.
But photography is based above all on perception, and on translating that perception into images. No set of rules, however vague, can ever replace our perception—or the desire to convey a message to the viewer.
Franz Kafka and the fear of making one's own decisions.
Do you know Kafka’s parable of the gatekeeper?
The fact that the scene takes place in a room full of artworks—indeed, in a cathedral—strikes me as remarkable, even though Kafka probably did not write the text primarily for artists. Of course, The Trial, from which this story is taken, is not a comedy—but because of its absurdity, it still makes me laugh.
A man stands before a gate and wishes to be admitted “to the Law (!).” The gatekeeper, an imposing figure, refuses him entry, saying he may enter someday—just not now. So the man waits in front of the gate. All his pleading and begging are in vain; he is not allowed to enter. After several years, he even stoops so low as to ask the fleas in the guard’s fur collar to help him—but to no avail. A faint hope remains in the light that shines through the crack beneath the door; yet the guard warns him that inside there are even more fearsome gatekeepers, ever ready to deny him entry. After many years of lonely waiting, close to death, the man asks why, in all that time, no one else has come seeking admission through this door. The guard replies that this entrance was meant for him alone—and now he is going to close it.
If you feel caught out by this, you probably should.
Many photographers take the pictures they know are okay while waiting for permission—whatever form that may take—to make the photograph they truly believe in. Perhaps they fear offending someone, or they want to please, or they dread criticism. Perhaps they want to prove that they can reproduce what’s already been done, or they assume that what already exists must be the best possible way.
But it never is.
Why? Because our perception—and that of others—is constantly changing. People change, as does the meaning of events, both personally and socially.
Photography, however, means interpreting things, not merely showing them—as Friedrich Nietzsche put it. By this I don’t mean abstract photography that seeks to describe a feeling—that’s an entirely different matter.
I mean surrendering unconditionally to one’s own perception and trusting oneself to capture that one decisive moment that excludes all others.
The gatekeepers I mentioned earlier are not the people who tell you what a photograph should or should not look like—the problem is subtler. The more often our synapses are flooded by trivial photographic interpretations of fascinating scenes—and social media does this on a massive scale—the more we start to believe that this is state of the art, that this is how it’s done.
All the while ignoring the fact that the scene might have offered so much more—had we only walked past the gatekeeper with confidence, without even acknowledging his presence.
As photographers, we are privileged: we can tell stories of beauty, tension, intensity, and essence—without resorting to platitudes.
All it takes is trust in one’s own perception.