Storytelling in der Orchesterfotografie – Wenn Bilder beginnen, Musik zu sprechen
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Zugegeben: Der Begriff „Storytelling“ wirkt überstrapaziert wie ein zu oft erzähltes und zu selten gehaltenes Heilsversprechen. Artikel und Bücher zu diesem Thema gibt es zu Hauf und nicht jeder Text beinhaltet trotz eindringlicher Ermahnung sich an die Regeln des Storytellings zu halten einen konkreten Wissenszuwachs. Zeit, sich mit diesem Thema unter der Berücksichtigung der Bedürfnisse eines Orchesters näher zu befassen.
Doch was bedeutet das eigentlich – Geschichten erzählen in der Orchesterfotografie? Gibt’s da überhaupt Geschichten?
Die klassische Orchesterfotografie befindet sich zweifellos im Wandel. Erst vor wenigen Monaten stellte das Magazin „Das Orchester“ die Frage nach zeitgemäßer Orchesterfotografie und bemerkte, dass die Fotografie von Orchestern der von anderen künstlerischen Disziplinen nachhinkt. Zugegeben: Eine Gruppe von 80 Personen fotografisch kreativ und spannend umzusetzen ist eine Herausforderung. Gerade wenn es sich um so große Gruppen handelt bietet das Storytelling neue Möglichkeiten, das Orchester kennen zu lernen. Nur: Welche Geschichten wollen erzählt werden? Welche Narrative verwendet werden?
Aus meiner Sicht ist die Frage falsch formuliert. Zielführender fände ich zu fragen: „Welche Geschichten möchte das Publikum hören?“ Selbst das trifft für mich nicht den Kern der Sache, umso mehr, als dass der Wortschatz, aus dem man Geschichten aus dem Orchester formulieren kann, ja eher begrenzt ist. Überspitzt gesagt: Eine Orchesterprobe beinhaltet keinen Plot. Treffend ist für mich also vielmehr: „Wie sollen die Geschichten erzählt werden?“
Und hier beginnt bereits die Herausforderung:
Zwischen ästhetischer Inszenierung und ehrlicher Erzählung liegt ein schmaler Grat. Zu viel Glanz, und das Bild verliert an Glaubwürdigkeit, insbesondere für noch – nicht Klassikfans. Zu viel „Authentizität“, und es wirkt beliebig bis langweilig. (Ich will damit keinesfalls sagen, dass Authentizität langweilig ist. Ich stelle dieses Wort unter Anführungszeichen, weil in meine Augen so etwas wie Authentizität in der Fotografie nicht existiert).
Machen wir das an zwei Beispielen sichtbar, zumindest für unser inneres Auge.
Der Dirigent, die Dirigentin ist zweifellos das Objekt der Begierde eines jeden Fotografen und eines jeden Social Media - Beauftragten – und wir alle kennen die Pose. Die eine Pose, die die Geschichte derjenigen Person erzählt, die dem Orchester zum Klang verhilft, die mit ihren Händen und gemeinsam mit dem Orchester (hoffentlich) Magie entstehen lässt. Die Geste ist so ikonisch, dass sie innerhalb der Zeitspanne eines Augenzwinkerns die Geschichte von Führung und Hingabe erzählt. Die Geschichte ist gut. Aber sie wirkt abgenutzt. Warum? Weil sie schon zu oft genau so erzählt wurde. Weil immer wieder die gleichen Wörter benutzt werden, um eine andere Geschichte zu erzählen. Jeder Dirigent, jede Dirigentin arbeitet anders, ich habe in den letzten Jahren unzählige erlebt – und trotzdem scheint es, als gäbe es nur eine einzige Geschichte. Nicht weil die Geschichten gleich sind, sondern weil sie gleich erzählt werden. Dabei wäre gerade hier der Raum für neue – oder neu erzählte – Geschichten: Wie ist der Moment der Stille vor dem Einsatz? Wie zeigt sich ein Dirigent, der nicht als übergeordnete Instanz sondern als Teil des gemeinsamen Prozesses auftritt?
Währenddessen bleibt das Orchester eher im Schatten – nicht im wörtlichen, sondern im erzählerischen Sinn. Über alle Kontinente und Orchester hinweg zeigt man Musiker:innen „bei der Arbeit“. Das ist authentisch, keine Frage. Aber gerade Situationen die durch und durch authentisch sind, sind der beste Nährboden für Geschichten – sofern man sie spannend und respektvoll erzählt.
Immer wieder: Spannung und Emotion.
Rufen Sie sich eine beliebige Geschichte, die Sie gefesselt hat, in Erinnerung. Ein Buch, ein Hörbuch, ein Film, etwas, das Ihnen eine Kollegin erzählt hat. Der Grund warum Sie davon gefesselt waren liegt vermutlich darin, dass Sie die Geschichte emotional berührt hat. Das mag an der Geschichte selbst liegen, daran, dass sie wissen wollten wie sie ausgeht - oder an der Erzählweise. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie Autor:innen aus scheinbar einfachen Plots Meisterwerke schaffen. Denken Sie zum Beispiel an Marlen Haushofers „Die Wand“ oder an einige Bücher von Haruki Murakami.
Natürlich bedeutet behind the scenes – Fotografie, ob mit oder ohne Storytelling einen Eingriff. Die Tatsache, dass ein Fremdling das Biotop einer Probe stören könnte schreckt einige ab, das kann ich niemandem verdenken. Dazu kommt natürlich auch die Tatsache, dass hinter der Kamera ein Mensch steht, der seine eigenen Vorstellungen davon hat welche Momente sehenswert sind.
Und da kommt Vertrauen ins Spiel. Erkläre ich vor der Probe wer ich bin, wie ich arbeite und dass niemand zu befürchten hat, auf eine wie auch immer geartete Weise öffentlich sichtbar zu werden ist die Ausgangsituation eine angenehme, die auch gute Fotografien verspricht. Sehr wichtig ist mir, vor dem Shooting mit möglichst vielen Musiker:innen Augenkontakt aufzunehmen - so erfahre ich schnell, wer gerne fotografiert werden möchte und wer nicht.
Ohnehin lautet meine Vereinbarung mit bisher allen Orchestern, dass ich keine einzige Fotografie ohne ausdrückliche Genehmigung veröffentliche – was ohnehin selbstverständlich sein sollte und schon rein rechtlich keinen Spielraum zulässt. Glücklicherweise kann ich von mir behaupten dass mir noch nie jemand zugetragen hat, ich solle mich leiser oder unauffälliger verhalten.
Storytelling ist viel mehr als ein schönes Bild zu machen. Denn erst im Spannungsbereich Authentizität und Ästhetik beginnt echtes Storytelling – nicht in der Beliebigkeit, nicht in der Pose, sondern im Prozess, nicht im Ergebnis, sondern im Wunsch der Begegnung zwischen Musiker:innen und Publikum.
Storytelling in Orchestral Photography – When Images Begin to Speak Music
Admittedly, the term “storytelling” feels worn out — like a promise told too often and too rarely kept.
There is no shortage of articles and books on the subject, and yet not every text — despite its urgent insistence on following the “rules of storytelling” — truly adds any knowledge.
Time, then, to take a closer look at this idea, considering the needs of an orchestra.
But what does it actually mean — to tell stories in orchestral photography?
Are there even stories to tell?
Classical orchestral photography is undoubtedly changing.
Only a few months ago, the magazine Das Orchester asked what “contemporary orchestral photography” might look like and noted that photography in the orchestral world lags behind other artistic disciplines.
It’s true: portraying a group of eighty people in a creative and engaging way is a challenge.
Especially with ensembles of that size, storytelling offers new ways of discovering and understanding the orchestra.
But which stories are worth telling? Which narratives are being used?
From my point of view, the question itself is misguided.
A more productive question would be: “Which stories does the audience want to hear?”
And even that doesn’t quite capture the essence, since the vocabulary from which we can form “stories” about an orchestra is quite limited.
Exaggeratedly put: an orchestra rehearsal has no plot.
So for me, the more fitting question is: “How should the stories be told?”
Between Aesthetic Staging and Honest Narration
And here the challenge already begins:
Between aesthetic staging and honest narration lies a very narrow path.
Too much polish, and the image loses credibility — especially for those not yet familiar with classical music.
Too much “authenticity”, and it risks appearing arbitrary or dull.
(I’m putting “authenticity” in quotation marks deliberately, because in my eyes such a thing doesn’t truly exist in photography.)
Let’s make this visible — at least in our mind’s eye.
The conductor: undoubtedly the object of desire for every photographer and every social media manager — and we all know the pose.
That one gesture that tells the story of the person who brings sound to life, who, with their hands and together with the orchestra, hopefully creates magic.
The gesture is so iconic that within the blink of an eye, it conveys a story of leadership and devotion.
It’s a good story — but it feels worn out.
Why? Because it’s been told too often in exactly the same way.
Because we keep using the same words to tell a different story.
Every conductor works differently — I’ve witnessed countless of them over the years — and yet it seems as though there is only one story.
Not because the stories are identical, but because they are told identically.
And that’s precisely where space would exist for new, or newly told, stories:
What about the moment of silence before the first gesture?
What about a conductor who appears not as a superior authority but as part of a shared process?
The Orchestra in the Shadows
Meanwhile, the orchestra itself remains in the shadows — not literally, but narratively.
Across continents and ensembles, musicians are shown at work.
That’s authentic, no doubt.
But situations that are truly authentic can be the best soil for storytelling — provided they are told with sensitivity and respect.
Always: Tension and Emotion
Think of any story that has ever captivated you — a book, an audiobook, a film, or something a friend once told you.
The reason it held your attention probably lies in the fact that it moved you emotionally — perhaps because you wanted to know how it ended, or because of how it was told.
I am repeatedly amazed at how authors can turn seemingly simple plots into masterpieces.
Think, for example, of Marlen Haushofer’s The Wall or of some of Haruki Murakami’s novels.
Behind the Scenes
Of course, behind-the-scenes photography — whether with or without storytelling — is always an intrusion.
And not everyone greets me with open arms.
It’s understandable that some are wary of a stranger potentially disturbing the delicate ecosystem of a rehearsal.
And then there’s the fact that behind every camera stands a person with their own idea of which moments are worth capturing.
That’s why my agreement with every orchestra I’ve ever worked with is simple:
I never publish a single photograph without explicit permission — something that should go without saying, and that, legally speaking, leaves no room for interpretation.
Fortunately, I can say that no one has ever told me to be quieter or less noticeable.
True Storytelling
Storytelling is far more than taking a beautiful picture.
Real storytelling begins only in the tension between authenticity and aesthetics — not in arbitrariness, not in the pose, but in the process;
not in the result, but in the desire for connection between musicians and audience.