Das Unsichtbare sichtbar machen.
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Seien wir uns ehrlich: Es gehört nicht viel dazu, eine Kamera – selbst im manuellen Modus – zu bedienen. Mit ein wenig gutem Willen verlieren ISO, Blende und Belichtungszeit ihren Schrecken, und es braucht keinen Hochschulabschluss, um in Lightroom passable Ergebnisse zu erzielen, die den Applaus der Online-Community hervorrufen. Als hilfreich hat sich eine umfangreiche Preset-Sammlung erwiesen, die im Verhältnis zur erwarteten Aufmerksamkeit für einen geringen Obolus zu haben ist. Das gilt natürlich auch für die dokumentarische Fotografie. Und das gilt auch für mich.
Schlussendlich kann das Erzielen von schnellen und passablen Ergebnissen in einer Art Selbstbefriedigung enden, die vielleicht nicht unbedingt am Ziel vorbeigeht, dieses aber auch nicht trifft – zumindest dann, wenn es darum geht, die Essenz eines Themas herauszuarbeiten. Ob das tatsächlich der Fall ist, kann man vermutlich mit der Frage „Diene ich als Fotograf eher mir selbst oder eher dem größeren Ganzen?“ beantworten.
Die Frage, die mich hier logischerweise beschäftigt, ist:
Worauf baut eine gute Fotografie aus einer Orchesterprobe auf?
Ein Leitfaden? Weit gefehlt!
Dass es so etwas wie einen Leitfaden für Orchesterfotografie nicht geben kann, ist eigentlich schlüssig. Jedes Orchester ist ein lebendiges Geflecht aus individuellen Musikerinnen und Musikern, jede Probe ein einzigartiges Zusammenspiel von Klang, Bewegung und Moment. Ein starrer Leitfaden könnte nur Regeln vorgeben, doch er würde nie die feinen Nuancen, die kleinen Gesten, die besondere Atmosphäre einfangen, die jedes Orchester unverwechselbar machen.
Zudem gibt einfach zu viele Faktoren, die den Weg zu einer guten Fotografie begünstigen oder erschweren: Das Licht, die Beteiligten, die Atmosphäre, der Raum, das Zeitfenster, die Auswahl der Objektive, die Bereiche, zu denen man Zutritt hat.
Ich denke zwar, dass ich in den letzten beiden Jahren eine Bildsprache entwickelt habe, die dem entspricht, was ich zeigen will. Was mir aber immer gefehlt hat, war eine Aussage, ein Satz, der mich auch in schwierigen fotografischen Situationen daran erinnert, worauf es ankommt.
Per glücklichem Zufall bin ich über einen großartigen Essay des Theologen Wolfgang Vögele mit dem Titel „Belichtungen“ im Magazin “Tá katoprizómena” gestoßen, der sich der Fotografie von theologisch-philosophischer Seite nähert. Vögele zitiert in seinem Text John Berger, Booker-Preisträger und Fotografie-Enthusiast, mit den Worten:
„Eine Fotografie ist gelungen, wenn der gewählte Moment ihrer Aufnahme ein Maß an Wahrheit enthält, das allgemein anwendbar ist, und wenn die Fotografie genauso viel über das mitteilt, was auf ihr fehlt, wie über das, was sie abbildet.“
Das klingt etwas sperrig, zugegeben. Auch wenn es mehrere Deutungsmöglichkeiten gibt, würde der Satz für mich übersetzt heißen: „Ein gutes Foto zeigt nicht nur Sichtbares, sondern im selben Maße auch Unsichtbares, das wiederum die Fotografie spannend und einzigartig macht.“
Filme, Serien und Bücher leben vom Geheimnis
Bei genauerer Überlegung trifft Bergers Ansatz nicht nur auf Fotografien zu, sondern auch auf Filme, Serien und Bücher – also auf alles, das mit dem Erzählen von Geschichten zu tun hat. Nicht umsonst endet eine Serienfolge mit einem Cliffhanger, lässt ein Buchautor die Leser über mehrere Seiten im Unklaren oder setzt ein Regisseur die Kamera so ein, dass Spannung erzeugt wird. Warum also auf das, wovon Drehbuchautoren und Regisseure aus der ganzen Welt leben, in Fotografien verzichten?
Ohne Geheimnis keine Spannung, ohne Spannung kein Interesse.
Meine Erkenntnis ging aber noch weiter. Da ich beinahe täglich auf Social Media Fotografien von Orchesterproben zu sehen bekomme, die mich wenig inspirieren, habe ich diesen Satz auch auf diese Bilder angewandt. Und wie das oft so ist: Im Negativen funktioniert die Aussage besser, klarer, eindeutiger als im Positiven. Anders formuliert: Mir gefallen die allermeisten der Behind-the-Scenes-Fotografien nicht, weil sie kein Geheimnis beinhalten, keine Fragen offenlassen, kein Zauber von ihnen ausgeht. Vielmehr zeigen sie immer die gleichen Posen, Farben und Einstellungen, als ob es einen Verhaltenskodex für Fotograf:innen gäbe.
Wer denkt, es ginge bei der Orchesterfotografie nur darum, Menschen und Instrumente zu zeigen, hat zwar das Sichtbare erkannt (was bei der Menge an Motiven keine große Kunst ist) aber das Unsichtbare übersehen – und verfehlt damit genau das, was eine Fotografie erst sehens- und erinnernswert macht.
Das Herbstblatt-Syndrom: Stereotype Orchester
Ursprünglich wollte ich als Überschrift „Das Herbstblatt-Syndrom: Totfografierte Motive“ wählen, aber das stimmt nicht. Es geht nicht um das Motiv. Es geht um den Blick darauf. Es geht darum, nicht zuzulassen, dass aus Neugierde Routine wird.
Dass Berger mit dem Nicht-Sichtbaren einen neuen Kontext meint, der sich dem Betrachter zunächst nicht – oder überhaupt nicht – oder in ungewohnter Weise erschließt und der sich im Subtext der Fotografie befindet, bestätigt sich in seiner folgenden Erklärung:
„In der Fotografie des Herbstblattes fehlt zunächst einmal nichts, das Blatt steht für sich selbst, deswegen langweilt es ja so schnell. Der zu oft gezeigten Fotografie des Herbstblattes ist das Geheimnis abhandengekommen.“ (Berger, Der Augenblick der Fotografie, 39)
Diesem Problem des „zu oft Gezeigten“ kann ich viel abgewinnen. Auch wenn ein Herbstblatt – so wie eine Musikerin oder ein Musiker – per se visuell etwas zu bieten hat, so haben wir alle schon sehr, sehr oft Herbstblätter zu Gesicht bekommen, sowohl bei einem Spaziergang als auch in Fotografien – als stereotype Abbildungen mit stereotypen Eigenschaften ohne Persönlichkeit.
Was haben Orchester nun mit einem Herbstblatt zu tun?
Mit Orchestermusiker:innen verhält es sich wie mit dem Herbstblatt. Wir wissen, wie ein Orchestermusiker oder eine Orchestermusikerin aussieht. Wir wissen, wie ein Konzertsaal aussieht. Wir wissen, wie Instrumente aussehen. Und damit meine ich nicht nur Eingeweihte, sondern so gut wie alle Menschen, zumindest in unseren Breitengraden.
Also nichts leichter, als bei einer Orchesterprobe Close-ups mit Weitwinkelaufnahmen zu kombinieren, um ein möglichst breites visuelles Spektrum abzudecken, im Idealfall eine Geschichte zu erzählen?
Leicht ist das tatsächlich. Aber macht es Sinn? Wenn das Ziel darin besteht, zu zeigen, dass es das Orchester gibt, dass es probt, dass es Spaß bei der Probe hat, dass der Dirigent sein Letztes gibt – dann ja.
Wenn die Fotografie mehr leisten soll, als das ohnehin Offensichtliche abzubilden – wenn sie Rätsel andeuten, Neugier schüren, die Situation hinterfragen und eine Aura des Geheimnisvollen entstehen lassen will –, dann ist die stereotype Darstellung keine Antwort, sondern ein Irrweg.
Die Musik sehen, nicht nur hören
Wer ein Orchester fotografiert, darf sich nicht mit bloßer Oberfläche zufriedengeben. Es geht nicht nur darum, Hände auf Saiten, Reflexionen am Blech oder Schlagstöcke festzuhalten, sondern die Musik selbst zu verstehen – ihre Spannungen, ihre leisen Zwischentöne, ihre Momente des Atemholens. Das benötigt Zeit: Zeit, die Musik zu hören, Zeit, sich mit den Orchestermitgliedern zu unterhalten, Zeit, die Umgebung kennenzulernen. Nur dann kann man die Augenblicke erkennen, in denen das Unsichtbare sichtbar wird. John Berger schreibt, dass eine Fotografie ebenso viel über das vermittelt, was fehlt, wie über das, was zu sehen ist. Für die Orchesterfotografie bedeutet das: Nur wer die Musik in sich aufnimmt, kann die subtilen Momente einfangen, die ein Bild über das Offensichtliche hinaus interessant und erinnernswert machen.
Der Versuch einer Conclusio
Bergers Satz ist so umfassend, dass er mehrere Möglichkeiten der Interpretation zulässt. Was nun dieses Nicht-Sichtbare ist, kann man konkret schwer festmachen. Klar ist aber, dass das Geheimnisvolle in Schwarzweiß wesentlich besser zur Geltung kommt und auch leichter zur Geltung gebracht werden kann. Nicht umsonst bedienen sich unzählige Meister des Fachs dieses Mediums. Und ohne Zweifel ist es das, was über die bloße Darstellung eines Motivs hinausgeht und im Idealfall eine Geschichte aus einer Orchesterprobe erzählt, wie das Cover eines Buchs. Es ist das, was den Betrachter länger als die übliche Sekunde an die Fotografie bindet und das, was die Fotografie in Erinnerung bleiben lässt.
Am Ende läuft es bei jeder Orchesterprobe auf eine zentrale Frage hinaus: Ob ich es schaffe, das Unsichtbare sichtbar zu machen und dabei dem Offensichtlichen und Vertrauten neue Aufmerksamkeit und Bedeutung zu verleihen.
Seeing the Invisible: Notes on Photographing Orchestras
Let’s be honest: it doesn’t take much to operate a camera—even in manual mode. With a little persistence, ISO, aperture, and shutter speed quickly lose their intimidation. And it certainly doesn’t take a degree in fine arts to push sliders in Lightroom and produce images that win easy applause online. A well-stocked preset library can be had for little money compared to the attention it often buys. The same applies to documentary photography. And yes—it applies to me as well.
The danger, of course, is that quick and decent results can turn into a form of self-gratification. Such work may not completely miss the mark, but neither does it strike at the heart of the matter—at least not when the goal is to reveal the essence of a subject. Whether one succeeds can perhaps be answered with a simple question: Am I, as a photographer, serving myself—or serving something larger?
This brings me to the question that preoccupies me most:
What makes good photography of an orchestra rehearsal?
The Myth of a Handbook
A handbook? Hardly.
The very idea of a guide to orchestra photography is absurd. Every orchestra is a living organism made of individual musicians; every rehearsal is a unique interplay of sound, movement, and fleeting moments. A rigid set of rules might teach exposure or angles, but it will never capture the nuances, the subtle gestures, the atmosphere that make each ensemble distinct.
And then there are the countless variables that shape the outcome: the light, the people involved, the mood in the room, the architecture, the time allowed, the choice of lenses, even the access you’re granted.
Over the past two years I’ve developed a visual language that reflects what I want to express. But one thing has always been missing: a guiding sentence, something to remind me—especially when I’m struggling—what really matters.
By chance, I found it in an essay by the theologian Wolfgang Vögele titled Exposures, published in Tá katoprizómena. Writing about photography from a theological and philosophical perspective, Vögele cites the Booker Prize–winning author and photography enthusiast John Berger:
“A photograph is successful when the chosen moment of its capture contains a measure of truth that is universally applicable, and when the photograph communicates as much about what is absent from it as about what it depicts.”
Cumbersome, perhaps—but rich. For me, Berger’s words translate into this: A good photograph shows not only what is visible, but equally what is unseen—the very element that makes the image compelling and unique.
Why Mystery Matters
On reflection, Berger’s insight applies not only to photography but to all forms of storytelling—films, novels, television. Why else do series end with cliffhangers, authors stretch suspense over chapters, or directors frame shots to provoke tension? Mystery sustains interest. Without it, there is no intrigue; without intrigue, no reason to care.
This thought gained further weight when I considered the flood of rehearsal photos I encounter daily on social media—most of which, frankly, leave me cold. I began applying Berger’s sentence to these images, and the negative example made the truth clearer than the positive ever could. Put simply: many behind-the-scenes photos fail because they contain no mystery, pose no questions, and carry no magic. Instead, they repeat the same poses, the same colors, the same angles—as if following an unspoken code.
To believe that orchestra photography is only about showing musicians and instruments is to confuse visibility with meaning. The visible is the easy part. The invisible is what makes a photograph worth seeing—and worth remembering.
The Autumn Leaf Syndrome
I once considered calling this reflection The Autumn Leaf Syndrome: Over-Photographed Subjects. But that’s misleading. The problem isn’t the subject—it’s the gaze. It’s the moment when curiosity hardens into routine.
Berger himself illustrates this in his essay The Moment of Photography:
“In the photograph of the autumn leaf nothing is lacking at first glance; the leaf stands for itself, which is why it so quickly bores us. The too-often photographed autumn leaf has lost its mystery.”
The point resonates deeply with me. A single leaf can be beautiful, just as a musician can be visually striking. But we’ve all seen leaves—countless leaves—both on the ground and in photographs. At some point, the image of a leaf ceases to surprise us. It becomes a stereotype of itself.
What musicians share with autumn leaves
The same is true for orchestras. We know what musicians look like. We know what concert halls look like. We know the familiar shine of brass, the grain of wood, the gesture of a conductor. This is not knowledge reserved for insiders; it belongs to nearly everyone in our cultural sphere.
So yes, it’s easy to shoot a handful of wide-angle frames, sprinkle in a few close-ups, and present the result as a narrative. Easy—but does it matter? If the goal is merely to show that an orchestra exists, that it rehearses, that people enjoy the rehearsal, that the conductor throws himself into the work—then perhaps it does.
But if photography aims to do more—if it wants to suggest enigmas, awaken curiosity, unsettle our assumptions, and wrap the scene in a sense of mystery—then the formulaic approach is not a solution but a dead end.
Seeing the Music
Photographing an orchestra means refusing to stop at surfaces. It’s not enough to capture bows on strings or sticks on drums. One must try to understand the music itself—its tensions, its pauses, its delicate in-between moments. And that takes time: time to listen, time to speak with musicians, time to learn the rhythms of the room. Only then can one recognize the instants when the invisible emerges.
As Berger reminds us, a photograph conveys as much about what is absent as what is present. For orchestra photography, that means: only by absorbing the music can one capture the subtle, ephemeral gestures that transform an image into something memorable.
Toward a Conclusion
What exactly counts as “the invisible” is hard to pin down. Berger’s formulation is deliberately open, which is its strength. But one thing seems clear: mystery is often more palpable in black and white. Perhaps that is why so many masters of the craft rely on it—not just for its aesthetic purity, but because it strips away distraction and amplifies what lingers beneath the surface.
In the end, that is what lifts an image beyond mere depiction. It is what turns a rehearsal into a story, like the cover of a book. It is what holds the viewer’s gaze longer than a passing second, what keeps a photograph alive in memory.
And so every orchestra rehearsal, for me, comes down to a single question:
Can I make the invisible visible—while granting the obvious and familiar new attention and meaning?